Tuesday, October 20, 2009

eine für 73 tage - poet in residence @100tagebücher

#4 Stepptanz – horizontal.

denn, was langsam beginnt, zaghaft, artet aus, erwächst sich.

… Harry steht vor dem Schaufenster. Fuck that! Ich hätte nie gedacht, dass ich ihm mal leibhaftig begegnen würde, aber wenn einer Harry nahe kommt, meinem Harry – dessen Gott, Schöpfer, Vater und Mutter, dessen Satan & Zerstörer ich bin; der ihm Blut in die Wangen treibt und der die Taktzahl seines Pulses bestimmt / an guten Tagen 140 bpm , morgens eher um die 65 /, dann ist der das, der da vor dem Schaufenster steht.

… ich will ja hinausgehen, auf die nur andere Seite des Fensters treten, ihm eine verpassen und um dann zu sagen: Leck mich doch, ich wusste, dass Du eines Tages zu mir kommen wirst. Als wärs nur ein Deja-Vu gewesen, und wo ich Harry doch wenig Gutes getan habe. Einmal ließ ich ihn zu Tode stürzen, einmal mit gebrochenem Herzen an einem tristen Vorstadtfriedhof versauern, dann wieder schlug sich der Großmut in mir durch und ich spendierte ihm einen neuen Wagen. Weils manchmal etwas mehr sein darf, einen Ferarri. Mal verzehrte er sich vor Schuldgefühlen, mal wich er ihnen galant mit einer Vierteldrehung aus, dann wiederum schien er völlig immun. Mal ließ ich ihm die Frau ein andermal nahm ich sie ihm weg und vergnügte mich die ganze Nacht mir ihr. Sein vollkommendes Mindmapping aus Mosaikstücken, zusammengesetzt von – ! Und jetzt, Harry, … wenn ich Dich anspreche, weil ich wissen will, was Deine Augen sehen, wenn ich in Dich hinsehen will, weil ich wissen will, was Du denkst.

… ein heiliger Moment. Nicht ganz der brennende Busch, aber … Man muss schließlich auch dem Alltag die Gelegenheit lassen, Pathos zu entwickeln. Er sieht normal aus. So unscheinbar normal, dass ich mich wirklich frage, ob er es ist. Aber da steht sein Name, mit großen schwarzen Buchstaben ihm quer über die Stirn geschrieben, quasi eingeritzt. H A R R Y. Ich weiß alles über Dich! (Auch, wie dein Schweiß riecht, oder dass Du, so Du Dich unbeobachtet fühlst … ) Mein erster Satz. Und was wirst Du mir antworten? “Ich weiß, ich kann Dich in der Wortzahl nicht mehr einholen” Oh Harry …

Denn ein Hauptspeicher kann nur dann effektiv arbeiten, wenn das Steuerwerk die Adressen von Befehlen und Daten schnell und sicher auffinden kann.

… 0 … 1 …. 0 …. 1 …. 0 ….

Und so besteht ein Wort aus vier Speicherzellen, ein Doppelwort aus 8 Speicherzellen und ein Halbwort folglich aus 2 Speicherzellen. (grundriß der elektronischen datenverarbeitung, 1. auflage München, 1975)

… denkt er daran, wie sie morgens mit der öffentlichen zum Flughafen fuhr und sich auf den vier Stunden langen Weg machte, um mit ihm zu streiten, dann, schon kurz vor dem endgültigen Aus, “aber schlafen wir nochmal miteinander. Das letzte Mal”, zu sagen, dann wieder, kurzes, aber befriedigendes Intermezzo, die vier Stunden zurück, während er schon am nächsten Tag nicht mehr daran dachte, dass sie wirklich da gewesen war. Bis ihre Besuche irgendwann ausblieben, hatte der Vater, der Richter in Amt und Ehren ihr die Kreditkarte eingezogen, um Missbrauch einen Riegel vorzuschieben. So war es doch Harry, oder?

… ein Taxi, bremst. Jemand hat dem Wagen den Spiegel abgefahren, bleibt ebenfalls stehen, steigt aus. Das Opfer, ein gemütlicher Mann, schütteres Haar, faßähnlicher Bierbauch. Der Täter, ein hochgeschossener Blondschopf, dem die Hose um ausgemergelte Beine schlabbert. Harry wendet sich vom Fenster weg, betrachtet den Vorfall. Runzelt die Stirn. Interesse? Nummern werden ausgetauscht, ein paar schnelle Bilder für die Versicherung gemacht, damit alles seinen rechten Weg geht und keiner davon abkommt. Ob er was gesehen hätte, aber Harry schüttelt den Kopf, dann nähert er sich dem Taxi. Ich habs gesehen, hier, ich. Nur, ich kann nicht weg, ich bin hier, hinter dem Fenster und du bist dort. Steig nicht ein, bitte Harry – steig nicht in dieses Taxi. Es gibt für uns kein “ich bin kurz um die Ecke”, denn gehst Du, kommst Du vielleicht nie wieder.

… und hochgerissen aus meinen Tagträumen steht eine junge Mutter vor mir, eine von der Sorte, wie man sie in 73 Tagen wohl kein zweites Mal mehr sieht. Mit zwei Kleinkindern, eines auf jedem Arm. / Anm: Streiche die Kinder. Eine junge Mutter, deren zwei Sprößlinge im Kinderwagen auf dem Gehweg …/ Und einem Hintern, der nur dazu einlädt, darauf einen wilden Stepptanz hinzulegen. Horizontal natürlich.

… Abblende in die vorgeborene Dämmerung (des Nachmittags). Eine amorphe, in der Form unentschlossene Seifenblase auf ihrem kurzen Weg von links nach rechts vor dem Schaufenster, bis sie zerplatzt – einfach so. Man muss dem Alltag die Gelegenheit lassen, Pathos zu entwickeln.

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