Monday, September 7, 2009

Sex is sold - Über Freiwilligkeit und das Argument der Tradition

Was aber wird hinzukommen? Das wird sich entscheiden, wenn ein neues Geschlechtherangewachsen sein wird: ein Geschlecht von Männern, die nie in ihrem Leben in

den Fall gekommen sind, für Geld oder andre soziale Machtmittel die Preisgebung einer Frau zu verkaufen, und von Frauen, die nie in den Fall gekommen sind, weder aus irgendwelchen andern Rücksichten als wirklicher Liebe sich einem Mannhinzugeben, noch dem Geliebten die Hingabe zu verweigern aus Furcht vor den ökonomischen Folgen. Wenn diese Leute da sind, werden sie sich den Teufel darum scheren, was man heute glaubt, daß sie tun sollen; sie werden sich ihre eigne Praxis und ihre danach abgemeßne öffentliche Meinung über die Praxis jedes einzelnen selbst machen – Punktum. Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. (1884)

Der Auslöser für diese Gedanken ist die Tatsache, dass auf dem Strassenstrich in Zürich unhaltbare Zustände herrschen, wie z.B. die NZZ hier mit Hintergründen berichtet. Ungarinnen werden von Zuhältern dazu gezwungen, in der Schweiz zu arbeiten, halten sich oft nur wenige Wochen oder Tage hier auf, weil die Zuhälter der Meinung sind, es sei in der Schweiz viel Geld zu verdienen, was dann aber eben nicht stimmt und dazu führt, dass die Preise so tief gesunken sind, dass sich »Stammprostituierte« am Sihlquai darüber beklagen, der Markt werde kaputtgemacht.

Die Situation ist eine Konsequenz aus zwei Gedankengängen: Erstens, dass der freie Markt zu einem fairen Austausch von Gütern und Dienstleistungen führt, weil alle nur das tun, was sie tun wollen, also Prostitution gar kein Problem ist, da die Frauen ihre Dienstleistungen ja nicht anbieten müssten, aber das offenbar wollen – und zweitens, dass Prostitution moralisch ist.

Zuerst zum zweiten Punkt. Das verwendete Argument ist, dass es Prostitution schon immer gegeben habe und dass ein Verbot von Prostitution Prostituierte und Freier in die Kriminalität drängen würde, obwohl sie einem (aufgrund der Tradition gesehen) natürlichen Bedürfnis nachgehen. Nun ist nicht alles, was es schon immer gegeben hat, moralisch (z.B. Diebstahl), ist etwas, was auf einer so krassen Geschlechterhierarchie basiert, meist problematisch und könnte die Kriminalisierung nicht nur Probleme schaffen, sondern auch Probleme lösen. Doch das nur als Denkanstoss – aufgrund der verfügbaren Berichterstattung zum Thema, in der immer noch das Phantasma der anschaffenden Studentin präsent ist und eine Art Bordellromantik, in der Frauen eine spassige Arbeit ausführen und dann mit viel Geld ein Leben in Saus und Braus führen, präsent sind, kann davon ausgegangen werden, dass Prostutierte dann die besten Rahmenbedingungen erleben, wenn sie eine Art Etablissement mieten können, in dem ihre Sicherheit garantiert ist und gewisse Standards gesetzt sind – und dann tun kann, was sie will.

Dann aber zum ersten Punkt. Wenn das kapitalistische Ideal die freie Befriedigung der Bedürfnisse innerhalb der Voraussetzung ist, dass niemand anderes in seiner Freiheit eingeschränkt wird, dann darf man wohl fragen, ob dieses Ideal unter den Voraussetzungen des Kapitalismus erreicht werden kann. Das Beispiel der Prostitution, selbst wenn man von den Tatsache absieht, dass selbst nach liberaler Denkart ein offenbar viel zu großer Staat nicht in der Lage ist, Menschenhandel zu unterbinden, zeigt auf drastische Weise, was unter dem Deckmantel der Freiwilligkeit passiert: Frauen verkaufen Dienstleistungen, die langfristig mit massiven psychischen und oft auch physischen Schäden verbunden sind. Ob man ein Bedürfnis haben kann, das solche Schäden mit sich zieht, wage ich stark zu bezweifeln – und ganz allgemein die These in den Raum stellen, dass kapitalistische Kaufkraft Abhängigkeiten schafft und so auch Unfreiheit.

[Via http://philippe-wampfler.com]

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